Leseprobe aus:

„leben“

 

Auszug aus dem 2. Kapitel

1957

„He Hannah, weißt du, dass du ausgesprochen gebärfreudige Hüften hast?“ Vorsichtig legten sich zwei Hände um die Taille der jungen Frau, die gerade die Schwingtür des Restaurants aufstieß. Empört drehte sie sich um und blickte in das lachende Gesicht von Georg Jantzen.

‚Na klar, typisch Mann. Bestimmt der Frauenheld hier, und er selbst findet sich sicher unwiderstehlich“.

Hannah sagte es nicht laut, seine Freunde umstanden ihn und lachten sie übermütig an. Sie warf die langen dunklen Haare zurück, wollte, wie immer in solchen Situationen, abweisend und kühl reagieren, dachte aber: ‚Besser, du lachst zurück, sonst bist du bei denen gleich unten durch’.

Sie war erst wenige Tage an der Hotelfachschule in Bad Wiessee, und schon jetzt kam es ihr manchmal vor, als hätte es das letzte Jahr, die Ehe mit Harald und den Aufenthalt in Isfahan nie gegeben.

Jetzt lachte Georg sie an und meinte:

„Nimm’s nicht so ernst, war nur ein Scherz“.

Tagelang ging sie ihm aus dem Weg, doch ihr Ärger über seine blöde Bemerkung legte sich, und bald fand sie ihn auch nicht mehr so eingebildet wie am Anfang.

Immer wieder versuchte er, mit ihr zusammen zu sein. Die Gespräche wurden intensiver, wurden ein gegenseitiges vorsichtiges Herantasten und Suchen nach Gemeinsamkeiten.

Nach einigen Tagen gab sie seinem Drängen nach und verabredete sich mit ihm für einen Spaziergang am See.

„Erzähl doch mal von dir!“, forderte Georg die junge Frau auf, nachdem sie schon eine Weile stumm nebeneinander über die Promenade geschlendert waren.

Ein wenig erschrocken und doch auch amüsiert, fragte sich Hannah, ‚warum kann ich mir vorstellen, ihm wirklich etwas von mir zu erzählen? Da ist anscheinend doch mehr als nur Sympathie, eher so etwas wie Vertrauen?’ Sie hatte das Empfinden, als ob er mit seiner bisherigen Art etwas überspielen wollte. ‚Aber was kümmert’s mich, er kann mir doch völlig gleichgültig sein!’ Nachdenklich schaute sie Georg von der Seite an. ‚Ist er mir aber nicht!’ Es ging eine Wärme von ihm aus, von seinem Lachen und seinem Blick, die sich übertrug, und die Hannah ganz leicht werden ließ.

In Gedanken kehrte sie zu den letzten Monaten zurück, erklärte kurz, dass Harald ihr Mann war, von dem sie aber jetzt in Scheidung lebte.

Georg musste sich sehr anstrengen, Hannah zu verstehen, sie schien seine Gegenwart vergessen zu haben, sprach so leise, als gälten ihre Worte gar nicht ihm:

„Harald war... tja.., was war er mir eigentlich wirklich? Der Ausbruch aus Ordnung und Disziplin, war Verliebtheit und das Versprechen von Freiheit. Er arbeitete im Hotelfach, träumte von fremden Ländern, die Welt schien uns allein zu gehören und nur deshalb, weil er daran glaubte! Das Leben wurde mit ihm plötzlich aufregend, prickelnd und neu. Vor allem, als er sich für ein Stellenangebot in Persien interessierte. “

Sie lachte, doch es klang keineswegs lustig, eher… unsicher: „Für diese Stelle musste er verheiratet sein, das war eine der Bedingungen. Wir waren verliebt, wir suchten beide das Abenteuer, was lag näher, als zu heiraten? Eigentlich wollte ich Germanistik und Literatur studieren, aber in der Obersekunda wurde ich krank. Herzmuskelentzündung. Monatelanger Krankenhausaufenthalt und dann die Worte des Arztes: ‚Sie dürfen nie arbeiten, nie heiraten und nie Kinder bekommen.“

Sie schwieg, fragte sich: ‚Warum bin ich Georg gegenüber nur so offen? Oder spielt es im Augenblick gar keine Rolle, wer und ob mir jemand zuhört? Vielleicht muss ich nur einmal aussprechen, was ich in den letzten Monaten selbst nicht verstanden habe!’

Sie holte tief Luft, steckte energisch eine Haarsträhne, die ihr ins Gesicht gefallen war, wieder unter die weiße Wollmütze. Nach einer Weile fing sie wieder an zu sprechen:

„Da tauchte Harald auf und die Beziehung zu ihm war Auflehnung pur gegen dieses Verbot von Lebendürfen“.

Abrupt blieb sie stehen und blickte Georg erstaunt an

„Warum erzähl ich dir das alles?“

Er schien ihre zuvor gedachten Gedanken erraten zu haben und meinte: „Möglich, dass es gar nicht wichtig ist, wer dir zuhört, auch möglich, dass du einfach einmal sprechen musst, dich… von etwas befreien willst.“

Georg hatte nach ihrer Hand gegriffen, doch Hannah entzog sie ihm fast grob. Sie wollte keine körperliche Nähe, sondern nur einen Zuhörer, auch wenn sie spürte, dass es das nicht allein war. Sie überging seinen Einwurf, sagte: „Wir waren so neugierig aufs Leben. Und plötzlich also Persien! Das Angebot, in Isfahan ein neu eröffnetes Hotel zu leiten. Kannst du ermessen, was das für uns hieß? Persien – Isfahan… Fremde Welten, Abenteuer versprechende Namen! Wir nahmen das Angebot an und machten uns mit unserem alten gebrauchten Ford Taunus auf die lange Reise von 6000 km“.

 

Auszug aus dem 17. Kapitel

1960

Es war acht Tage vor Kens erstem Geburtstag. Noch ließ der Wintereinbruch auf sich warten. Hannah stellte sich den trüben deutschen November vor und genoss die noch immer wärmende Sonne Ankaras.

Ungewöhnlich früh am Nachmittag kam Georg nach Hause. Er war in Begleitung von Major Henry Jones, dem verantwortlichen Offizier des Natoclubs. Georg legte den Arm um Hannah, und in seinem Gebaren lag ein solcher Ernst, dass sie ängstlich von ihrem Mann zum Major sah:

„Schatz…“ Georg zögerte, das Sprechen schien ihm schwer zu fallen. Was war nur los… so kannte sie ihren Mann gar nicht. „Georg, was ist denn? Henry, ist etwas passiert?“

Georg schien sich ein wenig zu fassen. „Nein, nein, du brauchst nicht zu erschrecken, es ist... Henry wird es dir gleich erklären, ja?“

„Hannah, hören Sie mir zu!“ Gott sei Dank, Henrys Stimme klang einigermaßen normal.

„Lassen Sie es mich kurz machen. Ja, es ist etwas geschehen, und Sie müssen…“, seine Stimme stockte, doch dann sagte er rasch, als wollte er die Worte so schnell als möglich loswerden, „Sie müssen morgen früh mit ihrem Mann und den beiden Kindern die Türkei… verlassen“.

Hannah starrte den Amerikaner fassungslos an. Was hatte er da gesagt? Die Türkei verlassen! Von einer Stunde zur andern!???? Unmöglich!

Doch der Major sprach schon weiter: „Sie dürfen leider nichts, hören Sie, nichts mitnehmen. Ihre persönlichen Dinge werden Ihnen von der Army nach Deutschland nachgeschickt. Niemand, wirklich niemand darf etwas von Ihrer Abreise erfahren, selbst nicht einmal Ihre Vermieter“.

„Herrje, so sagen Sie doch endlich, was los ist! Warum so viel Geheimniskrämerei? Von einer Minute zur andern das Land, die Wohnung, so einfach alles aufgeben! Fast zwei Jahre leben wir hier! Und plötzlich..“. Sie stockte. „Sagen Sie doch endlich, warum, was ist geschehen?“….

 

Auszug aus dem 30. Kapitel

1965

„Georg, ich werde Dr. Carasco bitten, bei dieser Geburt einen Kaiserschnitt zu machen!“

Georg setzte sich abrupt im Sessel auf: „Aber warum denn das?“

„Ich habe mir gedacht, er soll mich dabei gleich sterilisieren.“

„Hannah!“ Georg war ehrlich entsetzt, gleichzeitig aber auch beschämt. Vor Jahren hatte er einen solchen Schritt für sich abgelehnt, weil ein Frankfurter Arzt damals meinte, das könne man einem Mann seelisch nicht zumuten und nun… nun wollte seine Frau…

„Liebes, warum musst du diese Entscheidung jetzt treffen?“

„Weil ich nicht auf eine weitere Schwangerschaft warten möchte. Weil beim Kaiserschnitt die Sterilisation gleichzeitig gemacht werden kann. Weil ich keine Geburt, keine Wehen und einfach nichts mehr aushalte… Sind das genügend Gründe! – Und… um ehrlich zu sein, ich habe schon mit ihm gesprochen, und er hat mir zugesagt.“

Georg ließ sich nicht anmerken, dass er enttäuscht war, weil Hannah diesen Schritt entschieden hatte, ohne ihn zu fragen. Er fühlte sich erbärmlich, und bedrückt ließ er den Kopf auf seine aufgestützten Arme sinken. Dachte: Dabei kann ich sie so gut verstehen. warum war ich vor Jahren für eine Sterilisation zu feige, warum habe ich auf den Arzt gehört? Bei mir wäre es ein leichter Eingriff, bei ihr… bei ihr wird es eine Operation….!

 

Doch… hier irrte sich Georg!!!! Denn… 4 Wochen vor dem angenommenen Geburtstermin bekam sie einen Anruf ihres Frauenarztes Dr. Carasco.

„Sie müssen mich verstehen, Señora! Eine solch weit reichende Entscheidung kann ich einfach nicht allein tragen. Deshalb habe ich an den Papst geschrieben. Und der heilige Vater hat mir eine Sterilisation bei Ihnen verboten.“

Hannah rastete regelrecht aus. ‚Das gibt es doch nicht!!! Die bekommen die Kinder ja nicht! Mütter sind denen vollkommen gleichgültig, sind ja bloß Frauen! Hauptsache, es kommen Kinder auf die Welt. Und bei einer wie mir kann er obendrein noch sicher sein, dass nach dem sechsten das siebte, das achte usw. kommt, bis die Mutter eben krepiert. Das glaub ich nicht…, das glaub ich einfach nicht’. Sie rannte durch den Garten, so gut es der dicke Bauch erlaubte, weil sie nicht wusste, wie sie sonst mit ihrer Wut fertig werden sollte. ‚Eine Gebärmaschine bin ich, nichts weiter als eine Gebärmaschine!’ tobte sie.