Leseprobe aus:

... und die Zeit stand still

 

Prolog

Mit heißen, trockenen Fingern streicht er über den goldgelben Lack des Instruments. Zeichnet die vollendeten Proportionen der Geige nach. Hebt sie unters Kinn, die rechte Hand greift nach dem Bogen. Er legt ihn auf die G-Saite, zieht ihn mit festem Strich vom breiten Ende bis zur Spitze durch. Der volle Ton schwingt durch das spärlich möblierte Zimmer. Dringt in den Spieler. Bricht ihn von innen auf.

Er beginnt das Adagio aus der ersten Violinsonate von Bach zu spielen - die Töne quellen aus dem glänzenden Leib der Stradivari. Die Saiten vibrieren unter dem fordernden Strich. Die Melodie steigt im Zimmer empor, füllt es aus, lässt Wände und Mauern zurückweichen. Bis er meint, unter freiem Himmel zu stehen, weit weg vom engen Wohnviertel im Frankfurter Ostend, im Norden Spaniens, am Strand von Berria. Hört die Stimme seiner Mutter "Miguel, komm doch!“ Sieht einen Jungen durch die sonnenwarmen Dünen rennen. Hartes Dünengras sticht in seine nackten Füße.

Er vernimmt das Rauschen des Atlantiks. Das Gurgeln, wenn sich die hintereinander herlaufenden Wellen am Felsengestein brechen, zurückbrandend in die heranjagende See. Hoch über ihm wirft sich eine Möwe steil aufsteigend dem Sonnenlicht entgegen. Ihr kreischender Schrei im klaren Blau des Himmels.

In dem Jungen die Sehnsucht nach Musik, nach der Empfindung klarer Töne und dem Himmel vor Sonnenaufgang.

Zitternd lässt er die Violine sinken. Streicht mit dem Handrücken der rechten Hand, die noch immer den Bogen durch die Luft führt, wirres dunkles Haar aus der Stirn.

Durch das gardinenlose Fenster leuchten die letzten Strahlen der untergehenden Sonne. Von der Straße Geräusche der Großstadt.

Er hört die schweren Schritte auf der Treppe, noch bevor stürmisch an der Tür der Wohnung geläutet wird.

Der schrille Ton der Klingel zerreißt die Erstarrung. Durchzuckt den lauschend vorgebeugten Körper.

Der Mann schaut sich gehetzt um.

Flucht? Zu spät....

 

Auszug aus dem 3. Kapitel

Unversehens fiel ihr Blick auf ein fein ziseliertes, altsilbernes Medaillon, das... scheinbar achtlos zwischen Broschen, Armreifen und langen Ketten auf einem Bord in einer Vitrine lag. Etwas - ging von ihm aus, das sie anzog und... gleichzeitig packte sie eine sonderbare Unruhe.

Blödsinn... das ist nur ein simples Schmuckstück, versuchte sie sich zu beruhigen.... Sie wandte sich ab..., doch wie magisch angelockt drehte sie sich wieder zu der Vitrine um. Das Silber schimmerte schwach im Schein der spärlichen Beleuchtung des Ladens. Sie streckte die Hand aus, berührte vorsichtig das Medaillon, hielt inne..., doch dann nahm sie es entschlossen in die Hand.

Ohne seine Arbeit zu unterbrechen, sagte der Mann, den sie längst vergessen hatte: „Sie haben einen sicheren Griff, dieses Medaillon ist aus einem wertvollen Familienbesitz.“

Die Rückseite des Schmuckes war glatt und schmiegte sich kühl in Paulas Handfläche, während es ihr selbst unerträglich heiß wurde.

Sie hob das Medaillon dicht an ihre Augen, als fiele ihr plötzlich das Sehen schwer. Eingehend betrachtete sie die verzierte Vorderseite, entdeckte ein großes P. Zögernd versuchte sie, den Deckel zu öffnen. Er widerstand ihrem Versuch. Hilflos schaute sie zu dem alten Mann, als sie auch schon seine knarrende Stimme hörte:

„Es lässt sich nicht öffnen.“

P! Warum trägt es gerade ein P...? Wem hat es gehört? Wer hat es wann getragen?

Der Alte ließ ihr keine Zeit, darüber nachzudenken. Er trat dicht an sie heran, murmelte: „Es ist eine Arbeit aus dem 17. Jahrhundert.“

Paula schloss fest die Hand um das Medaillon. Zaudernd fragte sie nach seinem Preis, erschrak über die Höhe der Summe. Wenn sie so viel dafür ausgab, konnte sie sich eine Woche ihres Urlaubs streichen. Sie wollte handeln... gab es auf. Sie musste es besitzen, gleichgültig was es kostete, es war wie ein Zwang, gegen den sie sich vergeblich wehrte. Sie griff nach einer silbernen Kette, hielt mitten in der Bewegung inne.... Sie konnte sich nicht vorstellen, das Medaillon einfach um den Hals zu tragen.

Aber warum denn nicht?

Sie hatte sich einen Schmuck gekauft, nichts weiter. Und doch war da etwas Fremdes, Bedrohliches.

Der Alte beobachtete die junge Frau aufmerksam. Langsam breitete sich auf seinem über und über mit Runzeln bedeckten Gesicht ein warmes Lächeln aus:

„Dieses Schmuckstück hat auf Sie gewartet.“

Paula zuckte zusammen. War der Alte verrückt geworden? Alles in ihr spannte sich, war Abwehr. Am liebsten würde sie schnell die dämmrige Werkstatt verlassen, aber der Mann hielt sie noch einen Augenblick am Arm fest:

„Der Verschluss ist nicht kaputt, irgendwann lässt er sich öffnen - irgendwann.“

Sie ballte die Hand mit dem Medaillon zur Faust, blickte zweifelnd auf den Mann. Was wollte er ihr sagen? Oder war er vielleicht nur einfach verwirrt?

Langsam öffnete sie die Faust und schrie leise auf, als plötzlich der Deckel des Schmuckstücks aufsprang. Sie erstarrte - das Medaillon war nicht leer. Es barg das winzige, ovale Bild einer jungen Frau. Kurze dunkelblonde Locken rahmten ein schmales Gesicht, große braune Augen, ein sinnlicher Mund, das Gesicht strahlte eine wundersame Lebendigkeit aus. Paula zitterte, fast wäre ihr das Medaillon aus der Hand gerutscht.

Das Bild .... Das war sie selbst...! Jemand hatte sie gemalt ...!

Erschrocken starrte sie auf das kleine Porträt. Empfand nur atemlose Bestürzung über die verblüffende Ähnlichkeit.

Hilflos wandte sie sich dem Mann zu, er stand regungslos mit geschlossenen Augen hinter dem niedrigen Ladentisch.

Paula spürte eine unheimliche Spannung im Raum. Etwas ungeheuer Lebendiges, Unfassbares schwang in dem Laden, seine Kraft drohte sie zu verschlingen.

Sie schaute wieder auf das Bild, versuchte behutsam, es aus seinem Rahmen zu lösen. Fürchtete, es würde zu Staub zerfallen. Als sie es endlich in Händen hielt, überfiel sie wieder dieses Zögern. Wovor hatte sie nur so schreckliche Angst?

Vorsichtig wendete sie das kleine Porträt um, las ‘Per Paola’ und dazu die Jahreszahl 1697.

Paola - Paula!

Entsetzen packte sie und einen Augenblick lang stürzten Gegenwart und Vergangenheit ineinander: diese Ähnlichkeit, der gleiche Name...

Sie drehte und wendete das Medaillon hin und her, hielt es ins Licht der Nachmittagssonne und fand noch etwas. Jemand hatte irgendwann winzige Buchstaben ins Silber der Innenseite des Schmuckes gekratzt. Sie entzifferte Paola Cederna, oder Caderna, war sich nicht ganz sicher.

Sie wandte sich dem alten Mann zu, wunderte sich über die liebevolle Besorgnis, die sie in seinen nun weit geöffneten Augen zu entdecken glaubte.

„Woher haben Sie es?“ Ihre Stimme zitterte vor Erregung. Leise fügte sie hinzu: „Bitte..., ich muss es wissen.“

Der Alte sah Paula fragend an: „Kennen Sie Italien gut?“

„Ich kenne es gar nicht.“

„Fahren Sie nach Cremona!“

„Cremona...?“

„Ja, in die Stadt der Geigen, in ihre Stadt.“

Wen meinte er? Wusste er, dass sie Geige spielte? Oder ... sprach er von dieser fernen Paola?

Drängend beschwor sie ihn: „Was wissen Sie von diesem Medaillon?“

Statt einer Antwort murmelte er nur: „Gehen Sie jetzt, gehen Sie! Und ... - passen Sie auf sich auf, Sie sind in Gefahr.“