Leseprobe aus:

WORAUF NOCH WARTEN

 

Auszug aus dem 1. Kapitel

6 Uhr 16! Pünktlich wie jeden Morgen schickten die Glocken des Mainzer Doms ihren Weckruf in den beginnenden Tag. Der Klang ließ

die Luft vibrieren, löschte alle anderen Geräusche aus und... beendete ihre viel zu kurze Nacht.

Noch schwebten die Bilder des Traumes erst am Rande des Vergessens. Lisa räkelte sich zufrieden, genoss die Wärme des Bettes, ein Lächeln auf den Lippen.

Sie drehte sich auf die Seite. Das Bett neben ihr war... leer. Sie strich über das weiße Laken, ihre Hand suchte die warme Kuhle in Lukas Kissen – vergebens. Er hatte nicht neben ihr ge­schla­fen, war nicht mit ihr aufgewacht, es gab nicht

mehr sein erstes, noch verschlafenes Guten-Morgen-Lächeln..... Nie mehr...

Der Morgen verlor sein Licht.

Lukas war nicht tot, aber seit fünf Jahren lebte er auch nicht.

Sie tastete nach der Fotografie auf ihrem Nachttisch. Ein strahlender, so lebendiger Lukas lächelte sie an. Zärtlich fuhr sie mit dem Zeigefinger über sein Gesicht. Die Kälte des Glases drang über die Fingerkuppe bis ins Herz.

Heute war Montag - Besuchstag bei Lukas - dreimal die Woche! Ein Korsett selbst gewählter Ver­pflichtung, das sie immer enger einschnürte. Wie ein Schat­ten lag es über ihren Tagen, den Wo­chen und Monaten, die ihren Namen verloren hatten – seit fünf Jahren.

Lukas erkannte sie nicht und dennoch... war da die Hoff­nung auf ein Wunder. Wieder fühlte sie mit Er­schrecken, wie fern, wie fremd ihr Lukas heute war, der einmal ihr Leben gewesen und nun hilflos an ein leeres Dasein gefesselt war.

Und sie? Sie fühlte sich oft so jung, wollte noch Wagnis, Lei­denschaften, Abenteuer. Wenn sie sich dieser Wünsche bewusst wurde, trat ihr wie ein.e wieder in die be­engende Zwangsjacke der Gegenwart ab.

 

 

Auszug aus dem 2. Kapitel

14. März vor fünf Jahren:

Es hatte noch einmal geschneit. Als das Telefon läutete, war Lisa so vertieft in die Planung der nächsten Reise mit ihrer Gruppe gewesen, dass sie es einfach läuten ließ. Sie erwartete keinen Anruf. Lukas war bestimmt noch auf der Autobahn, er hatte gestern gemeint, dass er gegen zwei Uhr ankäme. Caroline war in der Uni – Lisa wollte einfach nicht gestört werden. Das Klingeln ver­stummte, setzte aber sofort wieder ein... mehr ungeduldig als erwartungsvoll ging sie ans Telefon.

Danach war nichts mehr wie zuvor.

Das Telefon glitt ihr aus der Hand, nur noch von fern hörte sie eine Stimme, die immer weiter und weiter sprach:

Sei ruhig, bitte, sei ruhig. Was du sagst, kann nicht sein! Lukas kommt heute nach Hause!“ Sie wollte nicht hören, was sich langsam in ihr Bewusstsein drängte. Nein! Das kann einfach nicht wahr sein! Es muss sich um einen Irrtum handeln. Sie legte das Telefon auf die Station zurück, riss den Mantel vom Haken, rannte die Treppe hinunter. „Taxi!“ Sie schaute sich suchend um „Taxi - gab es in dieser Stadt denn keine Taxis mehr?“ Endlich - sie riss die Tür des Wagens auf, ließ sich neben den Fahrer auf den Sitz fallen: „Uniklinik - schnell bitte schnell.“

In der Klinik atemloses Fragen: „Die Notstation, bitte, ich muss zu Lukas.“

„Wer ist Lukas?“

Ein Mann im weißen Kittel trat auf sie zu. Sie stürzte auf ihn zu: „Nicht wahr, Sie meinten nicht Lukas Lohmann?“

„Ich bin Professor Zimmer. Und Sie sind Frau Lohmann?“

Lisa konnte nur nicken. „Ihr Mann“, hier machte er eine hilflose Pause, atmete tief ein und sah ihr endlich in die Augen: „Ihr Mann hatte auf der Auto­bahn einen schweren Unfall, als er einem Falschfahrer auswei­chen wollte. Wir bereiten ihn gerade für eine OP vor. Frau Lohmann, Ihr Mann ist schwer, sehr schwer verletzt. Es grenzt an ein Wunder, dass er diesen Unfall überlebt hat.“

Sie umklammerte den Arm des Arztes: „Er wird aber überleben, versprechen Sie mir das?“

Professor Zimmer murmelte: „Ich kann Ihnen nichts verspre­chen. Wir tun unser Menschenmögliches.“

Menschenmögliches? Das ist... das ist zu wenig - viel zu wenig, wollte sie ihm hinterher schreien, aber.... die Worte blieben ihr im Hals stecken.

Von diesem Augenblick an reduzierte sich Lisas Leben auf we­ni­ge Stunden im leeren Zuhause und auf Tage, Wochen und Monate im Krankenhaus an Lukas Seite. Meistens allein. Ca­roline ertrug den Anblick ihres Vaters nicht.

Und jedes Mal, wenn Lisa die Klinik betrat - dieser Moment der Hoffnung, es könnte sich etwas am Zustand ihres Mannes ver­ändert haben.

Aber... das Einzige, was blieb, waren.... Traurigkeit und Fassungs­losigkeit beim Anblick des nur durch zahllose Schläuche mit dem Leben verbundenen Menschen, der einst Lukas gewesen war. Mit dem Le­ben verbunden? Erst allmählich begriff sie, dass er abge­taucht war in ein Nichtsein.

Er war doch erst achtundfünfzig Jahre alt!

Und nun?

Was blieb ihm noch?

Eingeschlossen in gefühllose Körperlichkeit. Versunken in­ gei­stiger Dunkelheit. Für immer?

Und ... was blieb ihr?

 

 

Jahre später

Damals war Philipp Hochheimer aufgetaucht.

Es war ein kalter Wintertag gewesen, sie wollte mit ihrer Gruppe die Früh­jahrsreise nach Spanien besprechen.

Sie lächelte bei der Erinnerung an jenen Morgen. In die Parklücke neben ihrem kleinen Sportcoupé zwängte sich ein Motorradfahrer mit seiner Maschine. Als der Fahrer den Helm abnahm war ihr erster Eindruck - aha, ein übrig gebliebener Hippie. Und sofort

war da wieder ihre Sympathie für diese Aufbruchsgeneration.

Der Mann kam auf sie zu und streckte ihr die Hand entgegen: „Ich bin Philipp Hochheimer. Fahren Sie auch mit nach Spa­nien?“

Er wartete ihre Antwort gar nicht ab, sondern meinte noch: „Hoffentlich ist der Reiseleiter keiner von diesen alles besser wissenden Lehrertypen.“

Klar - ein Reiseleiter musste es sein, anderes war offensichtlich undenkbar. Dabei machte er doch gar nicht den Eindruck eines Machos.

Sie klärte ihn nicht über seinen Irrtum auf. Amüsiert und mit ein wenig Schadenfreude beobachtete sie sein verlegen-erstauntes Gesicht, als sie zum Diavorführgerät ging und anfing, den Anwesenden den Ablauf der Reise zu erklären.

Später entschuldigte er sich bei ihr und bemerkte lachend: „Da bin ja ganz schön ins Fettnäpfchen getreten. Lächerlich meine Bemerkung. Übrigens - bin ich selbst Lehrer gewesen.“

„Gewesen?“

„Na ja, irgendwann wird man aussortiert oder.... sortiert sich selbst aus.“ Und wieder lachte er: „Welch ein heiterer Beginn für un­sere Spanienreise, ich hoffe, Sie sehen das genauso.“

Und seither nahm er an jeder Reise teil. Zuerst nach Südspanien, ein halbes Jahr später in die Provence und im letzten Jahr meldete er sich auch für Norwegen an. Zu­fällig... war er immer an ihrer Seite.

Und ... sie genoss diese angeblichen Zufälle, die stumme, erregende Span­nung zwi­­schen ihnen.